A. Johner: La sexualité comme expression d’identités religieuses et politiques dans le canton de Vaud

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Titel
La sexualité comme expression d'identités religieuses et politiques dans le Canton de Vaud (fin de l'Ancien Régime-1848).


Autor(en)
Johner, Aline
Erschienen
Neuchâtel 2022: Éditions Alphil
von
Arno Haldemann, CRH, EHESS

Mit der Veröffentlichung ihrer überarbeiteten Dissertationsschrift schreibt sich die Lausanner Historikerin Aline Johner auf innovative Weise in die Geschichte der Sexualität ein. Dabei verschreibt sie sich familien- und verwandtschaftshistorischen Ansätzen neueren Zuschnitts, die netzwerkanalytische Erkenntnisse zu Verwandtschaftsbeziehungen mit kulturhistorischen Interpretationen in Dialog setzen. Als Untersuchungsraum wählt sie aufgrund der bewältigbaren Grösse und des politischen Profils die ländlich geprägte Waadtländer Gemeinde Payerne aus. Hier analysiert Johner das Sexualverhalten der Bevölkerung im Übergang vom ausgehenden Ancien Régime bis zur Bundesstaatsgründung im Hinblick auf aussereheliche Sexualität, Geburtenkontrolle, Verwandtenehen, Sittenkontrolle, politische sowie religiöse Polarisation und damit einhergehend der Bildung von sozialen Milieus anhand von vielfältigem Quellenmaterial.

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. In der Einleitung grenzt sich Johner einerseits von diskurstheoretischen Deutungsansätzen ab. Andererseits fordert sie eine Aktualisierung, aber auch Erweiterung sozialhistorischer Zugänge zur Geschichte der Sexualität. Sie kritisiert, dass die diskursanalytische Geschichtsschreibung zu einseitig von homogenen Gesellschaften ausging, die in ihrem sozialen Verhalten von elitären Diskursen geprägt waren. Neben der praxeologischen Überwindung dieser Verzerrung fordert sie von der Sozialgeschichte, sozioökonomische Kategorien nicht vorschnell als erschöpfende Erklärung des entsprechenden Sexualverhaltens zu behandeln. Auf diese Weise würde aussereheliche Sexualität primär von den Rändern der Gesellschaft her interpretiert, ohne familien-, verwandtschaftspolitische Aspekte ausreichend zu berücksichtigen. Ausser Acht gelassen würden dadurch von Gruppen und Individuen praktizierte Strategien. Agegen schlägt Johner vor, sexuelle Verhaltensweisen als Mittel zur Erlangung politischer und gesellschaftlicher Partizipation sowie als Ausdruck familiärer, politischer und religiöser Werte zu untersuchen. Weiter fordert die Autorin dazu auf, für das ausgehende 18. Und beginnende 19. Jahrhundert – eine Periode, für die oft ein Rückgang der Religiosität behauptet wird – religiöse Faktoren als Erklärungsansatz für unterschiedliche Sexualkulturen heranzuziehen. Es greife zu kurz, die Zunahme illegitimer Geburten, vorehelicher Sexualität und Praktiken der Geburtenkontrolle im Untersuchungszeitraum a priori dem für diese Zeit behaupteten religiösen Wertezerfall zuzuschreiben. Vielmehr sei es zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Rahmen sozialer Polarisation zu einer spezifischen Politisierung des Religiösen gekommen.

Der zweite Teil der Arbeit nimmt den konkreten kirchlichen Rahmen in Payerne in den Blick und analysiert das sexuellen Verhalten der Bevölkerung anhand der vorehelichen und illegitimen Geburten, die sie Kirchenbüchern und Prozessakten des lokalen Sittengerichts bzw. friedensrichterlichen Instanz entnimmt. Besonders aufschlussreich sind die weitreichenden Analysen zu Praktiken der Geburtenkontrolle, die sie unter anderem anhand der Familiengrösse, dem mittleren Alter der Mütter bei der ersten und letzten Geburt sowie dem Abstand zwischen den unterschiedlichen Geburten vornimmt. Die gewonnen Daten kombiniert sie mit einer eigens zu diesem Zweck erhobenen genealogischen Datenbank, um sexuelle Kulturen in unterschiedlichen Verwandtschaftsnetzwerken zu differenzieren. Dabei geraten die aussereheliche Sexualität und kontrazeptive Praktiken sämtlicher Gesellschaftsschichten in den Fokus. Johner umgeht so, sexuelle Verhaltensweisen ausschliesslich als schichtspezifische Phänomene zu interpretieren und weitet den Blick für Deutungsansätze, die über die disziplinargeschichtlichen Auspizien von Repression und Subversion hinausweisen. Auf der Grundlage der genealogischen Daten gelingt es ihr zudem, weibliche Verwandtschaftslinien in die Untersuchung miteinzubeziehen. Hervor tritt der wichtige Stellenwert der Akteurinnen in Bezug auf die Etablierung sozialer Milieus mit je spezifischen sexuellen Kulturen und verwandtschaftspolitischen Strategien.

Entlang dieser Strategien formierten sich Ende des 18. Jahrhunderts Verwandtschaftsnetzwerke mit unterschiedlichen Werthaltungen, die durch die politische und soziale Polarisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Differenzierung erfuhren. Zuerst beleuchtet Johner die politischen und institutionellen Hintergründe und Voraussetzungen, die während der Helvetik, der Mediation und danach für die politische und religiöse Differenzierung zwischen Liberalen und Radikalen und in der Folge in Payerne für die Ausprägung unterschiedlicher sexueller Milieus gesorgt hatten. Eine wichtige Rolle kam dabei der Frage nach der Stellung der Kirche im Staat zu, die in der Waadt unter den demokratisierten politischen Partizipationsmöglichkeiten der Revolution und ab 1830 zu einer umfangreichen Petitionstätigkeit führte. Aus diesen Umständen resultierte 1847 die Spaltung der reformierten Kirche in eine Église nationale und eine Église libre. Darauf aufbauend analysiert die Autorin anhand der Unterschriften in den Petitionen und dem vorhandenen Mitgliederlisten der Église libre, in welchen Verwandtschaftsnetzwerken sich die als radikal bzw. liberal identifizierbaren Personen zusammenschlossen. Dabei werden die praktizierten sexuellen Verhaltensweisen und Allianzsysteme im Zusammenhang mit geteilten politischen und religiösen Werten sichtbar. Es resultiert die zentrale Erkenntnis, dass die radikalen und liberalen Netzwerke ihren Ausgangspunkt bereits in den Familienund Verwandtschaftsnetzwerken des ausgehenden Ancien Régime fanden. In Bezug auf die Netzwerke, die in zahlreichen Grafiken und Tabellen präsentiert werden, und geteilten sexuellen Kulturen bestehen zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhebliche Kontinuitätslinien zwischen alter, geburtsständischer und neuer, auf politische Partizipation breiterer Massen angelegter Ordnung. Während sich das liberale Milieu entlang der Église libre und tendenziell in dynastischer Weise innerhalb des alten Patriziats formierte und sich durch eine erhöhte Geburtenkontrolle, wenig voreheliche Schwangerschaften und eine geringe Zahl an illegitimer Sexualität profilierte, zeichnete sich das radikale Milieu in seinem Sexualverhalten durch die stärkere Verbreitung illegitimer Formen der Sexualität und grössere Familien, das heisst der schwächeren Empfängnisverhütung, aus.

Dieses erkenntnisreiche Buch weisst nicht nur in seiner Machart über den mikrohistorischen Kontext Payernes und die Waadt hinaus. Die Lektüre dieses Forschungsimpulse setzenden Titels lohnt sich insbesondere wegen des innovativen methodischen Vorgehens Johners, mit dem sie vielfältiges Quellenmaterial sozialhistorisch operationalisiert, damit unterschiedliche Verwandtschaftsnetzwerke und soziale Milieus sichtbar macht und im Zusammenhang mit der Geschichte der Sexualität kulturhistorisch deutet.

Zitierweise:
Haldemann, Arno: Rezension zu: Johner, Aline: La sexualité comme expression d’identités religieuses et politiques dans le canton de Vaud (fin de l’Ancien Régime–1848), Neuchâtel 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 390-391. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

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